Kaum zu glauben. Wir erleben gerade eine Energiekrise. Die Älteren unter uns erinnern sich noch an die Ölkrise der 70er, Spaziergänge auf Autobahnen waren möglich. Aber gab es seitdem wieder ähnlich Dramatisches? Eigentlich nicht. Wie kommt es dann zur aktuellen Krise, was wird aus dem Klimaschutz und gibt es eine Lösung?
Industriebetriebe in China erleben gerade Stromengpässe, weil Kohle teuer ist und das Land Klimaziele erreichen will. Private Haushalte müssen dort angeblich schon Kerzen aufstellen. Großbritannien startet wieder seine Kohlemeiler, weil das Gas zu teuer ist. Eigentlich wollte sich die Regierung von dem Brennstoff zugunsten des Klimas verabschieden.
In Deutschland, wo fast jeder zweite mit Gas heizt, müssen sich die Menschen auf hohe Energiepreise im kommenden Winter einrichten. Laut Statistischem Bundesamt sind die Strom- und Gaspreise für Haushalte schon im ersten Halbjahr 2021 um jeweils 4,7 Prozent gestiegen.
Der Versorger Deutsche Energiepool in Niedersachsen hat seinen Kunden jetzt die Lieferverträge gekündigt. In den letzten Monaten hätten sich die Beschaffungspreise für Erdgas und Strom am Terminmarkt verdreifacht, Preise für kurzfristige Beschaffung verfünffacht.
Kosten für Erdgas in wenigen Monaten mehr als verdreifacht
Auch der Preis für Heizöl ist um hundert Prozent im Vergleich zum Vorjahr gestiegen. Rohöl der Nordseesorte Brent kletterte in den vergangenen Tagen erstmals seit drei Jahren über den Wert von achtzig Dollar. Und die Kosten für Erdgas haben sich innerhalb von nur wenigen Monaten mehr als verdreifacht. Im Großhandel kostet Gas derzeit teilweise mehr als siebzig Euro pro Megawattstunde. In der Corona-Krise lag der Preis manchmal nur noch bei fünf Euro.
Medien berichten, dass erste energieintensive Unternehmen wie BASF oder Aurubis ankündigen, die Produktion zu drosseln. Der norwegische Düngerhersteller Yara reduziert seine europäische Ammoniakproduktion aufgrund des explosionsartigen Anstiegs der Erdgaspreise, wie das Unternehmen kürzlich mitteilte. Solche Meldungen wirken sich schnell auch auf die Preise unserer Lebensmittel aus. Nicht ohne Grund liegt die Inflationsrate zum ersten Mal seit 28 Jahren wieder über vier Prozent.
Was ist da los? Warum explodieren die Energiepreise? Sicher denken viele gleich an Wladimir Putin, unterstellen ihm, dass er seine Erdgas-Lieferungen nach Europa runterfährt und so die Preise in die Höhe treibt. Manche sagen dem Kreml-Chef auch nach, dass er die Inbetriebnahme der umstrittenen Pipeline Nord Stream 2 erzwingen möchte, um nicht mehr durch die verhasste Ukraine liefern zu müssen. Harmloser klingen Berichte, wonach der Lieferant Gazprom eher technische Probleme habe und Länder wie die Türkei aktuell viel Erdgas bräuchten.
Nach Pandemie steigt weltweit Nachfrage nach Energie
Eine nüchterne Betrachtung sieht aber anders aus: Seit die Welt die Pandemie einigermaßen in den Griff bekommt, steigt die Nachfrage nach Energie, weil vielerorts die Produktion wieder ansteigt. Das gilt vor allem für Asien. Hinzu kommen außerplanmäßige Probleme wie eine Dürre in Brasilien. Deshalb liegen die Wasserkraftwerke dort brach und man weicht auf Erdgas aus. Allein der hohe Bedarf dieser beiden Abnehmer verknappt Flüssiggas am weltweiten Markt.
In Deutschland sind die vergleichsweise leeren Gasspeicher nach dem kalten Winter ein Grund. Laut Initiative Erdgasspeicher sind sie derzeit zu 64 Prozent gefüllt – im Vergleich zu historischen Werten ein sehr niedriger Stand. „Die technischen Potenziale zur maximalen Einspeicherung ermöglichen es dem Markt allerdings noch bis Anfang November einen Füllstand von über neunzig Prozent zu erreichen“, beruhigt die Initiative. Dennoch hat die aktuelle Knappheit Gas nun verteuert. „In der aktuellen Situation ist ein vorausschauendes Handeln gefordert“, mahnt Geschäftsführer Sebastian Bleschke.
Erdgaspreise und Klimaschutz verteuern den Haushaltsstrom
Hohe Erdgaspreise machen in der Folge auch unseren Strom teuer. Früher konnten wir in solchen Situationen auf Kohlekraftwerke zurückgreifen. Aber seit wir sie nach und nach abstellen, um die Klimaziele zu erreichen, gibt es diese Ausweichkapazitäten nicht mehr.
Hinzu kommt, dass die Europäische Kommission wegen der Klimakrise zu recht durch Klimaschutzvorgaben den CO2-Preis der Emissionszertifikate antreibt. Das soll die Nachfrage von Kohle zum Gas lenken, dessen Verbrennung weniger CO2-Emissionen zur Folge hat.
Was kommt jetzt noch alles auf uns Verbraucher zu? Die entscheidende Frage ist, ob es ein kalter Winter wird. Die US-Investmentbank Goldman Sachs warnte zuletzt in einer Studie vor großflächigen Stromausfällen in Europa im kommenden Winter.
In Italien plant Premierminister Mario Draghi Subventionen in Milliardenhöhe, um die hohen Strom- und Gaskosten für Verbraucher und Unternehmen abzufedern. Frankreich stellt schon fast sechs Millionen Haushalten Energiegutscheine aus und plant eine zusätzliche einmalige Zahlung von hundert Euro. Hierzulande ist die Politik noch mit Koalitionsgesprächen beschäftigt.
Grüner Wasserstoff als Alternative zu fossilen Energieträgern
Die logische Konsequenz der dramatischen Lage kann nur ein Nachdenken über unsere Energieversorgung sein. Sonnenstrom, grüner Wasserstoff sowie synthetische und biogene Kraftstoffe sollten die europäische Energieversorgung unabhängiger machen. Kohle und Atomkraft darf wirklich nur für den Notfall vorgehalten werden.
Die Abhängigkeit von russischem Gas wird aber nicht so leicht zu ändern sein. 168 Milliarden Kubikmeter Erdgas kamen per Pipeline im Jahr 2020 nach Europa. 56 Milliarden davon allein nach Deutschland.
Ist grüner, also klimaneutral erzeugter Wasserstoff, als Alternative zu fossilen Energieträgern das Element der Zukunft? Ihm wird gegenwärtig eine Schlüsselrolle für die Energiewende zugeschrieben. Denn das vom Weltklimarat IPCC ausgegebene Ziel, die globale Erwärmung auf 1,5 Grad Celsius zu begrenzen, kann nur erreicht werden, indem die weltweiten Kohlendioxidemissionen bis zum Jahr 2030 halbiert werden und bis spätestens 2050 eine globale CO2-Neutralität erreicht ist.
„Das Umdenken für eine nachhaltige Energiewende wird sehr viel einschneidender sein, als sich das heute manche politischen und wirtschaftlichen Entscheider schönreden“, sagt Professor Enno Wagner von der Frankfurt University of Applied Sciences: „Wir stehen vor der größten technologischen Herausforderung seit Beginn der Industrialisierung.“ Für ihn geht es um nicht weniger als den vollständigen Umbau der gesamten weltumspannenden Industriemaschinerie.
Unsere eigentliche nachhaltige Energiequelle ist die Sonne
Grüner Wasserstoff kann als nachhaltiger Energieträger in unterschiedlichsten Bereichen eingesetzt werden. In einem Zukunftsszenario beschreibt Enno Wagner, dass in sonnenreichen Gegenden, etwa in Saudi-Arabien oder Chile, mit riesigen Solarkraftwerken zunächst günstiger Strom erzeugt werden sollte, aus dem mittels Elektrolyse, also durch Spaltung von reinstem Wasser, Wasserstoff produziert wird.
Dieser grüne Wasserstoff könnte dann in Tankschiffen nach Europa transportiert werden, wo er als nachhaltiger Brennstoff in der Industrie, im Verkehr oder in Wohngebäuden eingesetzt wird. Denn mittels Brennstoffzellen lässt sich aus Wasserstoff wieder elektrischer Strom erzeugen.
„Für den Aufbau dieser Technologie sind allerdings immense Investitionen erforderlich“, schränkt Wagner das Szenario ein. Und es kommen Fragen auf: „Sind die hierfür erforderlichen riesigen Geldmittel auch rentabel eingesetzt? Ist die gesamte Wasserstoff-Technologie überhaupt sinnvoll? Und wie steht es um ihre Effizienz?“
Der Wissenschaftler weist zu recht darauf hin, dass unsere eigentliche nachhaltige Energiequelle die Sonne ist. In Form von hochwertiger Solarstrahlung trifft jede einzelne Stunde eine Energiemenge auf die Erde, die dem Jahresbedarf der gesamten Menschheit entspricht.
„Die erste Aufgabe muss also die großtechnische Erschließung der Solarenergie im globalen Maßstab sein“, so Wagner. Hocheffiziente Solarzellen, solarthermische Kraftwerke, aber auch die Solarchemie zur direkten Wasserstofferzeugung aus Sonnenlicht gilt es technisch zu entwickeln.
Als zweiten Schritt betrachtet Wagner die direkte Nutzung des Solarstroms über Stromnetze, die wir weiter massiv ausbauen müssten. „Erst im dritten Schritt erfolgt dann die Energiespeicherung, weil diese immer verlustbehaftet ist“, erklärt er. Zumal Wasserstoff keine primäre Lösung sein kann, da dieser auf der Erde nicht frei verfügbar ist, sondern immer erst aufwändig hergestellt werden muss.
Für die kurzfristige Speicherung zum Beispiel über Nacht oder für die leichte Elektromobilität sind Lithium-Ionen-Akkus heute die erste Wahl. Sie speichern mit einem Wirkungsgrad von rund neunzig Prozent. „Nachteilig ist, dass der Strom hier an spezielle Metalle wie Lithium, Cobalt und seltene Erden gebunden wird, deren Gewinnung oft in ärmeren Ländern unter schlechten Bedingungen erfolgt, und dass hierbei auch maßgeblich Kohlendioxid freigesetzt wird“, gibt Wagner zu bedenken. „Für die Speicherung über längere Distanzen sind sie daher ökologisch nicht verantwortbar.“
Ab einer Speicherkapazität von fünfzig Kilowattstunden ist es laut Wagner ökologisch vorteilhafter, Wasserstoff und Brennstoffzellen einzusetzen, obwohl die Energiewandlung hierbei mit höheren Verlusten einhergeht. Dafür können mit verhältnismäßig kleinen Elektrolysegeräten sehr große Gasmengen erzeugt werden. „Die saisonale Energiespeicherung für dunkle und kalte Wintermonate ergibt also praktisch nur mit Wasserstoff wirklich Sinn“, sagt er.
Auch LKW, Lokomotiven und Schiffe, die lange Strecken zurücklegen, werden in seinem Szenario in Zukunft vermutlich Wasserstoff tanken und Brennstoffzellen für die Stromerzeugung an Bord haben. „Synthetische Treibstoffe haben eine noch viel schlechtere Energiebilanz als Wasserstoff, so dass sie vermutlich eher in Nischen, zum Beispiel für den Flugverkehr, zum Einsatz kommen“, prognostiziert der Wissenschaftler.
Nachhaltige und umweltfreundliche Wirtschaftsweise nicht zum Nulltarif
Aber Wagner warnt auch vor falschen und zu hohen Erwartungen. „Den Umbau unseres Energiesystems für eine nachhaltige und umweltfreundliche Wirtschaftsweise gibt es nicht zum Nulltarif.“ So werde beispielsweise der Industrie suggeriert, dass der grüne Wasserstoff künftig nur ein bis zwei Euro pro Kilogramm kosten werde, womit er vergleichbar mit Erdgas wäre. „Regional in Deutschland erzeugter grüner Wasserstoff kostet aber momentan eher sechs bis acht Euro pro Kilogramm“, weiß Wagner.
Auch die von ihm angenommenen großtechnischen Erzeugungsanlagen in Wüstengegenden versprechen zwar einen sehr viel niedrigeren Preis. Sie bergen aber auch ein erhebliches Risiko. „Bilden sich durch den Klimawandel plötzlich Tiefdruck- und Regengebiete über den ehemaligen Wüstenregionen, könnte das die Wirtschaftlichkeit schnell zunichtemachen“, argumentiert der Wissenschaftler: „Es wird also kaum möglich sein, dass wir die technischen Strukturen und Berechnungsmodelle der fossilen Industriewirtschaft einfach übernehmen und auf erneuerbare Energien ummünzen.“
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