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Grünes Wachstum allein führt uns kaum aus der Klimakrise

Wissenschaft erklärt im Interview mit dem Philosophen Tobias Vogel. Er hat an der Ruhr-Universität Bochum Philosophie und Geschichte studiert, promovierte 2020 und arbeitet seit 2013 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für praktische Philosophie von Professor Matthias Kettner an der Universität Witten/Herdecke. Im Interview erläutert Vogel, wie man es schaffen kann, Wohlstand zu sichern, aber auch dem Klimawandel entgegenzuwirken.

Herr Vogel, die Klimakrise spitzt sich zu, die Klimakonferenz COP26 ringt in Glasgow gerade um Zehntel Grade Erderwärmung. Sie sagen, dass der rapide fortschreitende Klimawandel Zweifel daran nährt, ob das vorherrschende Wohlstandsmodell dauerhaft mit ökologischer Nachhaltigkeit vereinbar ist, bezweifeln auch, ob weiteres Wachstum der Wirtschaft noch zur Lebensqualität beiträgt. Und Sie sagen, dass es eine Alternative zur Abkehr vom Wirtschaftswachstum gibt, ohne verheerende Folgen für Mensch und Umwelt. Wie sieht die Alternative aus?

Mit unserem wachsenden Wohlstand haben wir die planetaren Belastungsgrenzen systematisch überschritten. Zugleich ist es nur finanzstarken, innovativen Volkswirtschaften möglich, zum Beispiel eine flächendeckende Energiewende zu vollbringen. Ein Fokus auf grünes Wachstum allein kann uns aber kaum aus der Krise herausführen. Wir brauchen radikalere Reformen, die nicht nur auf technische Umgestaltung setzen, sondern auch etwas an den Konsumgewohnheiten der Wohlstandsgesellschaften ändern. Eine komplette Abkehr vom Wirtschaftswachstum würde jedoch nicht nur das Kind mit dem Bad ausschütten, sondern auch über das Ziel hinauszuschießen, oder daran vorbei. Das gegenwärtige Wirtschaftssystem ist wie ein Fahrrad, das ohne Schwung umkippt. Ohne Wachstum wären Wirtschaftskrisen und soziale Verwerfungen die Folge …

… das ist alles nicht neu und stimmt mit einem Großteil der vorherrschenden Politik überein, was sollte anders werden?

Führende Ökonomen und Ökonominnen sind sich einig, dass unsere Wirtschaftssysteme lange schon nicht mehr gut funktionieren. Einkommens- und Vermögensungleichheiten steigen rasant, vor allem an der Spitze der Pyramide. Gewaltige Kapitalmengen werden zunehmend in immer weiter abhebende Finanzmärkte investiert statt in mehr Jobs. Blasenbildung und immer häufigere Schwankungen bis hin zu Crashs sind die Folge.

Und die Menschen partizipieren in sehr ungleicher Weise an den Wohlstandszuwächsen des Wachstums, Viele fühlen sich abgehängt, die Lebensqualität leidet darunter, Gesellschaften spalten sich. Die reichsten zehn Prozent der Menschheit stoßen fast die Hälfte aller Emissionen aus, das reichste ein Prozent immerhin noch deutlich mehr als die ärmere Hälfte der gesamten Menschheit.

Auch richtig, aber wie sollen Menschen ihr Konsumverhalten und ihre Art zu leben ändern?

Gerade bei sehr emissionsintensiven Gütern wie dem Flugverkehr oder dem Fleischverzehr wäre viel getan, wenn die schwindelerregenden Wachstumsraten in diesen Bereichen sich abflachen würden. Viele ärmere Menschen kommen überhaupt erst in den Genuss, gelegentlich Fleisch zu essen oder mal per Flugzeug zu verreisen. Es ihnen aus einer Wohlstandsposition heraus zu verwehren, wäre kaum gerecht. Es ungebremst zuzulassen, wäre hingegen ungerecht gegenüber jungen und zukünftigen Generationen. Wenn das reichste Hundertstel der Menschheit durchschnittlich zehnmal so viel Emissionen verbraucht wie durchschnittliche Erdbewohnende, dann wäre es hingegen gerecht, emissionsintensiven Konsum gerade dort stärker zu begrenzen.  

Damit steigen Sie in die Verbotsdebatte ein, die schon den Bundestagswahlkampf geprägt hat. Wie soll dies geschehen? Indem man zum Beispiel Flüge stärker besteuert?

Dann würde das Fliegen für alle teurer werden und zunehmend ein Luxus sein, den sich nur die reichsten Menschen leisten können. Auch das wäre kaum gerecht. Zum einen ließen sich Flüge aber gestaffelt besteuern, beispielsweise der erste Flug pro Jahr moderat, der zweite hingegen hoch und so fort. Zum anderen können wir noch grundsätzlicher ansetzen, indem hohe Vermögen und hohe Einkommen insgesamt stärker besteuert werden, wie dies vor mehreren Jahrzehnten noch gängige politische Praxis war. Es wäre hier grundlegend falsch, Umverteilung gegen Wachstum allzu rigide ausspielen zu wollen nach dem Muster: Entweder den Kuchen gleicher zu verteilen oder den Kuchen zu vergrößern, so dass am Ende alle ein größeres Stück erhalten.

Ein weiteres Reizwort, Sie fordern eine Umverteilung?

Noch mal, die ökonomische Wissenschaft ist sich einig, dass ein Abbau des gegenwärtigen Niveaus an Vermögenskonzentrationen helfen kann, das Risiko wirtschaftlicher Krisen zu mindern. Dann müssten wir mit den enormen Kapazitäten unserer heutigen Wirtschaftssysteme nicht vor allem drohende ökonomische Krisen abwenden oder in die Zukunft verschieben, sondern könnten die Wirtschaft freier in eine grüne Transformation schleusen. Gleichmäßigere Verteilung ist dann nicht mehr nur ein Anliegen der Verteilungsgerechtigkeit, sondern auch eines der ökonomischen Klugheit im Angesicht drohender wirtschaftlicher und ökologischer Katastrophen. Das Wirtschaftssystem wird also nicht durch ein anderes ersetzt werden, sondern so reformiert, dass Verdienste durch Leistung wieder stärker wiegen als Verdienste durch Besitz.

Ist das realistisch, überhaupt umsetzbar?

Eine realistische Utopie mag darin liegen, schnell politische Mehrheiten zu gewinnen und die Wirtschaft nicht nur auf die ökologischen Anforderungen auszurichten, sondern auch wieder auf mehr Lebensqualität für alle. Daraus folgt keineswegs die Forderung nach einer generellen Wachstumsabkehr, sondern nach einer konsequenten Wachstumstransformation, die den vorhandenen Problemen entgegenwirkt, ohne etablierte Errungenschaften zu gefährden. Denn Wachstum kann Lebensqualität auch mindern, wenn Menschen neue Effizienzpotenziale stets voll ausschöpfen müssen, um nicht zurückzufallen.

Ebenso kann es zur Erwärmung des Planeten beitragen, solange Treibhausgasemissionen in Produktion und Konsum mehr Vorteile bringen als deren Einsparungen. Für mich ist die technologische Innovationsfähigkeit des Wachstums eine wichtige Voraussetzung, damit wir die Herausforderungen bewältigen. Da sich allem voran die Klimakrise rasant verschärft, ist eine politisch anschlussfähige Wachstumstransformation nicht nur ein wünschenswertes Ziel für die Zukunft, sie ist dringend geboten.

Zum Schluss noch mal eine sehr philosophische Frage. In der politischen Philosophie wird der Individualismus als Resultat oder Fehlentwicklung demokratischer Gesellschaften angesehen. Ist er eine oder die Ursache der Klimakrise?

Unter Individualismus verstehe ich vor allem die Befähigung zu einem selbstbestimmten Leben, das wir mit Menschen teilen, mit denen wir uns verbunden fühlen. Ein Individualismus, für den wir uns sozial und politisch engagieren, weil er von Solidarität und dem Schutz durch demokratische Grundrechte abhängt. Den sozialen Hintergrund individueller Selbstbestimmung zu verkennen, halte ich hingegen für ein Missverständnis dessen, was Individualismus sinnvoll bedeuten kann.

Dieses Missverständnis trägt klar zur Klimakrise bei, ergibt sich aber kaum aus einer demokratischen Staatsordnung, sondern aus einem überstrapazierten Bild des sogenannten Homo Oeconomicus. Das hat weit mehr mit fehlgeleiteter Marktideologie zu tun als mit Staatsbürgerlichkeit. Den Wert des Individualismus vor dessen Zerrbildern in Schutz zu nehmen, halte ich für eine der vielen wichtigen Aufgaben von Philosophinnen und Philosophen.

Zur Person: Mit den Bedingungen für einen weniger radikalen Weg aus der Krise hat sich der Philosoph Tobias Vogel in seiner Doktorarbeit auseinandergesetzt. Die Arbeit wurde unter knapp 700 Bewerbungen beim diesjährigen Deutschen Studienpreis der Körber Stiftung in der Sektion Geistes- und Kulturwissenschaften mit dem Zweiten Preis ausgezeichnet. Als Buch ist sie im Metropolis Verlag erschienen (Titel: Grundlegung einer Kritischen Theorie des Wirtschaftswachstums. Normative Maßstäbe und kausale Zurechenbarkeit von Wachstumsproblemen).

Foto: Körber-Stiftung/David Ausserhofer

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