Vom „Vogel des Jahres“ haben schon viele gehört. Aber ein Insekt mit gleichem Status? Ja, seit 1999 wird es für Deutschland, Österreich und die Schweiz gekürt. Diesmal hat es einen auffälligen Hals, es ist die Schwarzhalsige Kamelhalsfliege.
Die Idee zum Insekt des Jahres stammt von Professor Holger Dathe, früherer Leiter des Senckenberg Deutschen Entomologischen Instituts in Müncheberg. Ein Kuratorium, dem namhafte Insektenkundige und Menschen aus wissenschaftlichen Gesellschaften und Einrichtungen angehören, wählt jedes Jahr aus verschiedenen Vorschlägen aus.
Für 2022 wurde jetzt die Kamelhalsfliege zum Insekt des Jahres gekürt. Schon eine Ehre, wenn man bedenkt, dass es allein in Deutschland über 33000 Insektenarten gibt. Kamelhalsfliegen gelten heute als die artenärmste Ordnung von Insekten mit vollständiger Verwandlung – also mit einem Puppenstadium. Aus vielen fossilen Funden lässt sich aber ableiten, dass die Insekten zu Lebzeiten der Dinosaurier in viel größerer Vielfalt auf der Erde vertreten waren.
Schwarzhalsige Kamelhalsfliege ist Insekt des Jahres 2022
Ein auffallend langer Hals, glasklare Flügel und eine Größe von sechs bis 15 Millimetern kennzeichnen alle Kamelhalsfliegen, lateinisch wird sie Raphidioptera genannt. Diese Tiere sind die artenärmste Ordnung der Klasse der Insekten. Weltweit sind nur etwa 250 Kamelhalsfliegen-Arten bekannt.
„In Mitteleuropa sind es bislang sechzehn beschriebene Arten, eine davon ist unser Insekt des Jahres 2022, die Schwarzhalsige Kamelhalsfliege Venustoraphidia nigricollis“, erklärt Thomas Schmitt, Professor und Direktor des Senckenberg Deutschen Entomologischen Institut in Müncheberg und Vorsitzender des Kuratoriums: „Lange Zeit galt diese Art als eine der seltensten Kamelhalsfliegen, bis man erkannte, dass sich die erwachsenen Tiere mit dem charakteristischen schwarzen Halsschild überwiegend in der Kronenschicht von Bäumen aufhalten.“
Auch Gegenspieler von Schadinsekten wie dem Borkenkäfer
Ein besonderes Beispiel für das Vorkommen von Kamelhalsfliegen liegt im Zentrum von Wien: Umgeben von brausendem Verkehr haben sich auf dem Maria-Theresien-Platz in der österreichischen Hauptstadt in den dort stehenden Kiefern zwei Kamelhalsfliegen-Arten angesiedelt. Weltweit einzigartig ist auch das jährliche Massenauftreten der schlanken Insekten rund um einen mehrere Jahrhunderte alten Bauernhof in Oberösterreich. Auf 800 Metern Höhe hat sich hier eine aus dem Mittelmeerraum eingeschleppte Art niedergelassen, deren geschlechtsreife Tiere jedes Jahr während der Paarungszeit von Mai bis Juli in großer Anzahl zu beobachten sind.
Sämtliche Kamelhalsfliegen sind in allen Lebensstadien Landbewohner. Die geschlechtsreifen Insekten sind tagaktiv und ernähren sich häufig von Blatt- und Schildläusen. Bei einer ausreichenden Populationsdichte können rindenlebende Kamelhalsfliegen-Larven als „Gegenspieler“ von Schadinsekten wie beispielsweise den Borkenkäfern nützlich sein. „Trotz ihrer gut entwickelten Flügel sind die Tiere dennoch keine guten Flieger, sondern bewegen sich eher schwirrend, hüpfend oder flatternd und nie über große Strecken“, so Experte Schmitt.
Kälteadaptierte Formen der Kamelhalsfliegen überlebten Meteorit
Die Verbreitung der Kamelhalsfliegen ist auf Teile der Nordhemisphäre beschränkt, da sie für ihre Entwicklung einen deutlichen Temperaturabfall benötigen, wie er beispielsweise im mitteleuropäischen Winter stattfindet. Aus vielen fossilen Funden kann man dagegen schließen, dass die Insekten in der Erdgeschichte viel weiter verbreitet und artenreicher waren.
„Der Einschlag des Meteoriten zum Ende der Kreidezeit, vor etwa 66 Millionen Jahren, machte dann nicht nur den Dinosauriern den Garaus, die daraus folgenden klimatischen Veränderungen ließen ausschließlich die kälteadaptierten Formen der Kamelhalsfliegen überleben“, erklärt Schmitt: „Deren Aussehen ähnelte aber dem der heutigen Arten bereits sehr, man kann die Kamelhalsfliegen daher auch als lebende Fossilien bezeichnen.“
Foto: Senckenberg/ Harald Bruckner