Die vierte Welle der Corona-Pandemie wird im Herbst kommen, daran zweifelt kaum jemand. Heftig diskutiert wird jedoch mittlerweile über den Sinn von Indikatoren wie zum Beispiel die Inzidenz. Eine wichtige Rolle bei der frühen Vorhersage steigender Fallzahlen können aber Analysen unseres Abwassers spielen, die das Auftreten von Corona und seinen Mutationen bis zu zehn Tage früher anzeigen. Die Europäische Kommission fordert deshalb von allen Mitgliedsstaaten bis Oktober 2021 ein Überwachungssystem in den Kläranlagen, das entsprechende Labordaten liefert. Die Bundesministerien für Umwelt (BMU), Gesundheit (BMG) und Forschung (BMBF) haben hierzulande die Umsetzung übernommen.
Aber was heißt das für Deutschland? „Die EU empfiehlt dringend, Kläranlagen mit einem Einzugsbereich ab 150000 Menschen in die Überwachung einzubeziehen“, sagt Stefan Bröker, Pressesprecher der DWA Deutschen Vereinigung für Wasserwirtschaft, Abwasser und Abfall in Hennef. Das hieße für Deutschland, dass in maximal siebzig Anlagen gestestet würde. Laut Bröker wäre es jedoch sinnvoll und möglich, mit bis zu 900 Kläranlagen der rund 10000 Stück in Deutschland etwa achtzig Prozent der Bevölkerung abzudecken.
Wie funktioniert die Virenmessung im Abwasser?
Dass unser Abwasser Geschichten erzählen kann, ist nicht neu. Schon früh hat man angefangen, Fäkalien auf Drogenrückstände zu untersuchen. 2010 wurde das europaweite Netzwerk SCORE gegründet, um Standards für Probenahmen und Analysen festzulegen. Zum Teil erstaunliche Ergebnisse liefert mittlerweile die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EMCDDA) auf ihrer Homepage, auch für einige deutsche Städte zuletzt aus dem Jahr 2020.
Aber auch Viren sind nicht zum ersten Mal im Visier der Forschenden. In den Niederlanden gab es zum Beispiel schon vor der Corona-Pandemie Erfahrungen mit dem Nachweis von Erregern wie Enteroviren. Dort hat man schon die notwendigen Strukturen aufgebaut, um das System flächendeckend zu nutzen.
Doch seit dem Ausbruch von Corona im vergangenen Jahr erlebt die abwasserbasierte Epidemiologie einen Aufschwung. Einen guten Überblick, was die weltweite Abwasserforschung seitdem für Verfahren entwickelt hat, bietet der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages. Demnach kann Corona problemlos mit dem PCR-Test im Abwasser nachgewiesen werden, mit dem auch Nasen- oder Rachenabstriche untersucht werden. Möglich ist das, weil Infizierte Corona-Fragmente ausscheiden. Weil die vielen anderen chemischen Stoffe im Abwasser die Schutzmembran des Virus’ zerstören, besteht aber keine Infektionsgefahr durch die Hinterlassenschaften.
Warum ist der Coronanachweis im Abwasser in der vierten Welle von Vorteil?
Da sich nun nicht mehr so viele Menschen testen lassen, weil sie genesen oder vollständig geimpft sind, fehlt den Behörden eine verlässliche Datenbasis zum Stand der Corona-Ausbreitung – gerade jetzt, wo steigende Zahlen Infizierter auf eine mögliche vierte Welle hinweisen. Denn auch solche Menschen können das Virus weiterhin verbreiten, ohne Symptome aufzuweisen.
Deshalb wäre im Vorlauf zur nächsten Corona-Welle ein flächendeckendes abwasserbasiertes System sinnvoll, zumal es wissenschaftlich gesichert bis zu zehn Tage früher alarmiert. „Das gilt auch für Mutationen, in einem Projekt in Wiesbaden zum Beispiel wurde ihr Auftreten frühzeitig vorausgesagt“, argumentiert DWA-Sprecher Bröker. Bundesweit bekannt ist mittlerweile auch das Abwassermonitoring im Landkreis Berchtesgadener Land, das Professor Jörg Drewes vom Lehrstuhl für Siedlungswasserwirtschaft an der TU München eingerichtet hat.
Die DWA hat Anfang 2021 das Projekt „CoroMoni“ für den „Aufbau einer Kommunikationsplattform zum Thema Abwassermonitoring zur Bestimmung des SARS-CoV-2-Infektionsgrades der Bevölkerung“ gestartet. „Dem Virus einen Schritt voraus zu sein bedeutet, Hotspot-Regionen frühzeitig zu identifizieren, Virus-Mutationen vor einer massiven Ausbreitung aufzuspüren und die Wirkung von Lockdown-Maßnahmen schneller bewerten zu können“, sagt Bröker. Corona-Monitoring über den Abwasserpfad fungiere dann als Pandemie begleitendes System, von der Früherkennung über die Mutationsaufspürung bis zur Entwarnung. „Wir fragen uns vor allem: Kann das System aufwendige und kostspielige Massentestungen mit hohem Anteil negativer Ergebnisse ergänzen oder sogar ersetzen“, so Bröker mit Blick auf die vierte Welle.
Wer bezahlt die Corona-Analyse des Abwassers?
Aber auch das von der EU geforderte Abwassermonitoring kostet die Kläranlagenbetreiber zusätzliches Geld. Die EU rechnet mit 25000 Euro pro Kläranlage im Jahr. Von der Sinnhaftigkeit ist man zwar auch bei der DWA überzeugt und steht hinter der zügigen Umsetzung. „Jedoch ist die Frage der Finanzierung auch eine juristische“, erklärt Sprecher Bröker. Denn die von allen Bürgerinnen und Bürgern gezahlten Abwassergebühren sind zweckgebunden, und jedes Bundesland hat dazu andere Regelungen.
Wer übernimmt dann die Kosten, um bis zur anzunehmenden vierten Welle der Pandemie im Herbst ein Monitoring zu haben? Zurzeit betrachtet der Bund in einem Pilotprojekt zu einem nationalen Abwasserüberwachungssystem, das Mitte Mai gestartet ist, Modellgebiete, die weitgehend repräsentativ für Deutschlands Siedlungs- und Bevölkerungsstrukturen sind. So will man zunächst die technischen, organisatorischen und finanziellen Anforderungen eines Abwassermonitorings auf ihre Praxistauglichkeit bewerten.
„In diesem Zusammenhang wird geprüft, ob die Abwasserdaten die Erkenntnisse aus Corona-Testungen sinnvoll ergänzen und möglicherweise auch Mutationen frühzeitiger erkennen können“, erklärt ein Sprecher des Bundesumweltministeriums. Sollte die Bewertung der hierdurch gewonnenen Erkenntnisse positiv ausfallen, legt das Pilotprojekt laut BMU die Grundlage für eine mögliche weitere Etablierung des Abwassermonitorings im Bundesgebiet ab dem Jahr 2022. „Die Arbeitsgruppen kommen gut voran, es verläuft alles wie geplant. Im Herbst stehen Kostenfragen auf der Tagesordnung“, so der Sprecher. Das Pilotvorhaben wird aus BMBF-Forschungsmitteln finanziert. Die EU hat angekündigt, Mitgliedstaaten darüber hinaus zu fördern. Für Deutschland hat die Kommission eine Summe von 3,64 Millionen Euro in Aussicht gestellt.
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