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Gelähmte mit künstlichem Protein heilen?

Es gibt ein paar Sensationen, die erhoffen wir uns seit jeher von der Wissenschaft. Zum Beispiel Blinde wieder sehen zu lassen. Oder dass Gelähmte wieder laufen können. Einem Forschungsteam an der Ruhr-Universität Bochum ist es mittels Gentherapie jetzt erstmals gelungen, Mäuse nach einer kompletten Querschnittverletzung wieder zum Laufen zu bringen. Sie berichten darüber im Journal Nature Communications. Ist das ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer Sensation?

Rückenmarksverletzungen durch Sport- oder Verkehrsunfälle ziehen häufig bleibende Behinderungen wie Querschnittslähmungen nach sich. Die Ursache liegt in der Schädigung von Nervenfasern, sogenannten Axonen, die im Rückenmark Informationen vom Gehirn zu den Muskeln und umgekehrt von Haut und Muskeln zurückleiten. Durch eine verletzungs- oder krankheitsbedingte Schädigung dieser Fasern ist diese Kommunikation unterbrochen. Da durchtrennte Axone im Rückenmark nicht nachwachsen können, bleiben lebenslang Lähmungen und Taubheitsgefühle zurück.

Bis heute gibt es noch keine Therapieoptionen, die die verloren gegangenen Funktionen bei betroffenen Patienten wiederherstellen könnten. In Deutschland gibt es etwa 140000 Menschen mit Querschnittlähmung. Die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung schätzt 2000 neue Fälle jährlich. Wobei die Zahl der unfallbedingten Rückenmarksverletzung aufgrund Prävention zurückgehe. Die Lähmungen durch Tumore oder Degeneration nehme zu.

Designer-Protein ist der Schlüssel zur Regeneration der Nervenzellen

Für das Team unter Leitung von Professor Dietmar Fischer am Lehrstuhl für Zellphysiologie an der Ruhr-Universität Bochum ist der Schlüssel zur Heilung das Protein Hyper-Interleukin-6, das Nervenzellen zur Regeneration anregt, und die Art und Weise wie es den Tieren zugeführt wird. „Hierbei handelt es sich um ein sogenanntes Designer-Zytokin, das bedeutet, es kommt so in der Natur nicht vor und musste gentechnologisch hergestellt werden“, erklärt Fischer.

Die Forscher brachten Nervenzellen des Motosensorischen Cortex im Gehirn dazu, Hyper-Interleukin-6 selbst zu produzieren. Dazu nutzten sie für die Gentherapie geeignete Viren, die sie in ein gut zugängliches Gehirnareal injizierten. Dort bringen die Viren den Bauplan für die Produktion des Proteins in bestimmte Nervenzellen, die sogenannten Motoneurone. Da diese Zellen über axonale Seitenäste auch mit anderen, für Bewegungsvorgänge wie das Laufen wichtige Nervenzellen in anderen Gebieten des Gehirns verknüpft sind, wurde das Hyper-Interleukin-6 auch direkt zu diesen sonst schwer zugänglichen, aber wichtigen Nervenzellen transportiert und dort gezielt freigesetzt.

„So wurde durch die gentherapeutische Behandlung nur weniger Nervenzellen die axonale Regeneration verschiedener Nervenzellen im Gehirn und mehrerer motorischer Trakte im Rückenmark gleichzeitig angeregt“, erklärt Fischer: „Das hat es letztlich ermöglicht, dass die so behandelten, zuvor gelähmten Tiere nach zwei bis drei Wochen begannen zu laufen. Dies hat uns am Anfang sehr überrascht, da es noch nie zuvor nach einer kompletten Querschnittslähmung gelungen ist.“

Viele verschiedene Therapieansätze für Querschnittgelähmte

Wie geht man mit diesem Forschungsergebnis nun um? Schließlich ist Vorsicht geboten mit Blick auf betroffene Menschen, die sich angesichts solcher Nachrichten Hoffnung auf Heilung machen könnten. Und die gab es in der Vergangenheit immer wieder.

Vor über zwanzig Jahren wollte man Querschnittgelähmte mit Stammzellen behandeln. Die Idee war, Stammzellen, die junge, unreife Zellen sind und sich zu allen möglichen Zelltypen entwickeln können, in das Rückenmark Geschädigter zu bringen. Dort hätten sie sich dann zu Nervenzellen umwandeln können und die Verletzung repariert. Zwar liefen Versuche mit Ratten gut. Doch um das Verfahren auf Menschen zu übertragen, musste zuerst die Entstehung von Krebs ausgeschlossen werden. Denn Stammzellen können sich auch zu Tumoren entwickeln. Deshalb ist man mit dieser Therapie vorsichtig geworden.

Die Eidgenössisch Technische Hochschule Lausanne hat zuletzt Fortschritte bei einer anderen Methode gemeldet, der elektrischen Stimulation des Rückenmarks. Elektrostimulation und physikalisches Training haben nach Angaben der Forscher drei querschnittgelähmte Männer wieder gehen lassen, zwei davon sogar mit Hilfe eines Rollators auch im Alltag.

Und an der Uni Grenoble ließ man einen gelähmten jungen Mann mit seinen Gedanken Arme und Beine wieder bewegen, auch ein paar Schritte gehen. Dafür hatten Mediziner ihm zwei Geräte mit Elektroden auf die Hirnhaut implantiert, die seine Gehirnströme ablesen und in Computersignale umwandeln. So steuert der Mann ein Exoskelett, in dem er steckt.

Nerven direkt an der verletzten Stelle reparieren ist Favorit

Favorit der Forschung ist es aber, neuronales Gewebe direkt an der verletzten Stelle im Rückenmark zu regenerieren. Doch die meist wenigen erhaltenen Nervenbahnen lassen sich nicht vermehren. Eine Ursache dafür ist das Eiweiß Nogo-A. Es steckt in der Membran, die Nervenfasern umgibt. Im Falle einer Verletzung verhindert es, dass Nerven neu wachsen.

Sein Entdecker, der Neurobiologe Martin Schwab von der ETH Zürich, hat mittlerweile einen Antikörper entwickelt, der das Protein hemmt. In Tierversuchen konnten sich danach Nerven regenerieren. Erste Tests an Menschen zeigten keine schwerwiegenden Nebenwirkungen. Nun probieren Ärzte die Wirkung bei über hundert Patienten mit einer frischen Querschnittlähmung aus.

Fischers Forschungsteam an der Ruhr-Universität Bochum will als nächstes untersuchen, ob Hyper-Interleukin-6 bei Mäusen auch dann noch positive Effekte erzielt, wenn die Verletzung schon mehrere Wochen zurückliegt. „Dieser Aspekt wäre für eine Anwendung am Menschen besonders relevant“, erklärt der Biologe, dem bewusst ist, dass man „nun wissenschaftliches Neuland“ betrete. „Diese weiteren Untersuchungen werden unter anderem zeigen, ob die Übertragung dieser neuen Ansätze auch auf Menschen zukünftig möglich sein wird“, sagt er.

Foto: Tony Laws auf Pixabay

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