Menschliche Opfer des Klimawandels lassen sich nicht ursächlich auf einen individuellen CO2-Ausstoss zurückführen. Das ändert aber nichts daran, dass jede individuelle Emission Auswirkungen hat. Denn die Emissionen summieren sich und verursachen weltweit Wetterextreme mit oft lebensbedrohlichen Folgen.
„Kann Untätigkeit von Staaten oder Staatengemeinschaften extremes, inakzeptables Unrecht sein“, fragt deshalb Eckardt Buchholz-Schuster, Jurist und Professor an der Hochschule Coburg. Er hat analysiert, inwiefern Staaten aus rechtsethischer Perspektive zu extremem, nicht tolerierbarem Unrecht beitragen, wenn sie nichts oder zu wenig unternehmen. Als individuelle Unrechtskategorie ist Unterlassen in unserem Strafrecht fest verankert. Wer beispielsweise zu einem Verkehrsunfall kommt und nichts tut, ist womöglich wegen unterlassener Hilfeleistung dran.
Konflikte zwischen Rechtssicherheit und Gerechtigkeit sind nicht neu
Was aber gilt für Staaten? Buchholz-Schuster beleuchtet das Thema staatlicher Unterlassungen auch in internationalem Kontext aus rechtsphilosophischer Sicht. Nationale Gesetze überlagern internationale Gesetze, teilweise mit widersprüchlichen Ergebnissen. Aber Konflikte zwischen Rechtssicherheit und Gerechtigkeit sind nicht neu.
Als Lösungsansatz wurde nach 1945 die sogenannte Radbruch‘sche Formel populär. Sie half, NS-Verbrechen und Todesschüsse an der innerdeutschen Grenze im Nachhinein zu beurteilen. Zur Tatzeit entsprachen sie formal dem Gesetz, aber durch das Zusammenspiel mehrerer ungerechter Faktoren entstand unerträgliches Unrecht. „Und extremes Unrecht kann gemäß der Radbruch‘schen Formel niemals durch Gesetze legitimiert werden“, argumentiert der Professor. Verschiedene Täter wurden später vor Gericht bestraft.
Aktiv begangene Verbrechen gegen die Menschlichkeit waren typisch für extremes staatliches Unrecht im zwanzigsten Jahrhundert. „Im 21. Jahrhundert erleben wir im Gegensatz dazu oft eine starke Passivität von Staaten und Staatengemeinschaften gegenüber grenzüberschreitenden Herausforderungen“, meint Buchholz-Schuster: „Nichtstun, das oft tödlich endet.“
Klimawandel hat ab bestimmten Punkt unkontrollierbare und unumkehrbare Folgen
Aber ist das extrem ungerecht? Buchholz-Schuster zeigt auf, inwieweit extremes Unrecht verlässlich zu erfassen ist und erklärt, wie Untätigkeit nach der Radebruch‘schen Formel bewertet werden kann: „Die verschiedenen Einflussfaktoren müssen möglichst konkret auf empirischer Grundlage beschrieben werden.“ Er zählt Beispiele im Bereich des menschengemachten Klimawandels auf. Die Länder der südlichen Erdhalbkugel, die am wenigsten zur Erderwärmung beigetragen haben, leiden am meisten unter Überschwemmungen, Hurrikans oder andernorts unter Hitze und Dürre.
„Ein weiterer Faktor ist, dass der Klimawandel ab einem bestimmten Punkt unkontrollierbare und unumkehrbare Folgen hat, die heute nicht absehbar sind“, so der Jurist weiter. Jeder Staat könne einen eigenen Beitrag dazu leisten, dass fundamentale Menschenrechte nicht durch ein „Weiter wie bisher“ verletzt werden. Aber die wohlhabenden Länder blieben bislang oft passiv. Ähnlich den Zeugen oder gar Mitverursachern eines schweren Verkehrsunfalls, die es unterlassen, zu helfen.
Gerichte allein können es nicht richten
Buchholz-Schuster fand dieses Muster bei verschiedenen Herausforderungen von internationaler Dimension. Bei einer Meldung über ein im Mittelmeer gekentertes Flüchtlingsboot mit zahllosen ertrunkenen Menschen dachte er: „Wie oft will ich mir das noch anhören, ohne etwas zu tun?“ Aber was? Er ist Jurist, Rechtsphilosoph, kein Aktivist. Also analysierte er. Und er schrieb eine Kurzmonografie über extremes staatliches Unrecht durch Unterlassen am Beispiel von Seenot auf Flüchtlingsrouten und Klimawandel.
Nun regt er an, rechtsethische Konzepte wie die Radbruch‘sche Formel auch und gerade für öffentliche Diskurse als rationalen Kompass zu nutzen. In der Vergangenheit wurden sie von Gerichten auf erlassene Gesetze angewandt, aber Buchholz-Schuster sieht das Problem aktuell vor allem in fehlenden und unzureichenden Gesetzen, in Rechtszersplitterung und einem damit einhergehenden ethischen und rechtlichen Vakuum: „Gerichte allein können es nicht richten“, ist er sich sicher.
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