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Wollen wir ständig Krise?

Was dieser Kalenderwoche eindeutig gelang, ist das Ablösen einer Krise durch die nächste. Eine dem Augenschein nach vor allem Moped fahrende Horde an Taliban-Kämpfern hat in Afghanistan mal eben die Hauptstadt Kabul erobert, womit im abziehenden Westen angeblich keiner rechnete. Hatten wir nicht gerade eine Klimakrise, davor eine Flutkatastrophe? Ja, aber jetzt ist Afghanistan-Krise! Das Gefühl kollektiver Ohmacht und tumultartige Szenen am Kabuler Airport haben alles andere zur Seite geschoben.

Da stellt sich die Frage, ob Gesellschaften heute von einer zur nächsten Krise hetzen wollen? Braucht der Mensch das? Oder sind Krisen Teil des schmutzigen Geschäfts von Medien und Politik?

Aber worüber reden wir genau? Das Wort Krise bezeichnet eine meist länger anhaltende massive Störung des gesellschaftlichen, politischen oder wirtschaftlichen Systems. Zu den prominentesten Vertretern einer Krise – wir reden hier nicht über Krieg, Insolvenzen oder harte Zeiten für einzelne Menschen – zählt nach der immer noch anhaltenden Corona-Pandemie die Flüchtlingskrise im Jahr 2015, die Bundeskanzlerin Angela Merkel in unbequeme Schieflage brachte.

Lange zurück liegt die Kuba-Krise im Oktober 1962, die die Welt an den Rand eines Atomkriegs brachte und eng verbunden ist mit dem schillernden amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy und seinem bissigen Gegenüber Nikita Chruschtschow. Interessantes Detail: Damals wusste lange niemand davon, was sich zwischen den USA und der Sowjetunion als Konflikt zusammenbraute. Ginge das heute überhaupt noch im Angesicht der Medienvielfalt?

Zahl der Krisen in den letzten drei Dekaden konstant geblieben

Fakt ist, die Zahl der öffentlich wahrgenommen Krisen nimmt gefühlt zu, wir hetzen von der einen zur nächsten. Und oft wird aus einer meist scheinbaren Bagatelle eine Krise gemacht, die dann wieder schnell aus der Öffentlichkeit verschwindet.

Krisen-Experte Frank Roselieb nennt Zahlen: „Ein Blick in die umfangreichen Datensätze zeigt, dass die absolute Zahl der Krisen in den zurückliegenden drei Dekaden recht konstant geblieben ist.“ Roselieb ist geschäftsführender Direktor des Kieler Instituts für Krisenforschung, das seit 1984 die zentralen Krisenfalldatenbanken für die vier deutschsprachigen Länder Europas führt.

„Pro Jahr ereignen sich im Schnitt 250 bis 280 Krisenfälle im deutschsprachigen Europa. Darunter sind jährlich rund 50 bis 60 große Krisenfälle, Ereignisse, die es auch auf die Titelseite des Magazins Spiegel oder in die 20-Uhr-Tagesschau schaffen“, stellt Roselieb fest.

Nach seinem Eindruck hat sich in den zurückliegenden dreißig Jahren der Anteil operativer Krisen wie Flugzeugabstürze, Lebensmittelkontaminationen oder Hotelbrände deutlich verringert – von zwei Drittel aller Fälle auf ein Drittel. Kommunikative Krisen wie Empörung über angebliches oder tatsächliches unethisches oder unmoralisches Fehlverhalten einer Führungskraft haben sich demnach im gleichen Maße erhöht.

Mediennutzer erhalten heute die gleichen Informationen wie früher

Sind es dann doch die Medien, vor allem die „sozialen“, die uns glauben machen wollen, dass eine Krise der anderen folgt? „Mediennutzer erhalten heute im Kern die gleichen Informationen wie früher, nur aus einer sehr viel größeren Zahl an Medien“, meint Krisenforscher Roselieb.

Ob ein Ereignis den Weg in die öffentliche Kommunikation findet und sich im Wettstreit um die knappe Ressource Aufmerksamkeit über einen längeren Zeitraum behaupten kann, hängt von vielen Faktoren ab. Corona-Pandemie und Klimakrise sind beste Beispiele für zwei verschiedene Verläufe.

So hat das Corona-Virus einen Neuheitswert. „Die Ausbreitung verläuft schnell, das Geschehen ist dramatisch, die Auswirkungen greifen umfassend in den Alltag ein“, erklärt Jochen Ostheimer vom Institut für Ethik und Gesellschaftslehre an der Karl-Franzens-Universität in Graz. Die Corona-Pandemie ist sozusagen ein akutes Problem, das jeden interessiert.

Skandalismus bestimmt zunehmend unseren Alltag

Die Klimakrise hingegen leidet an geringer öffentlicher Wahrnehmung. Sie vollzieht sich schleichend, Auswirkungen zeigen sich erst ganz allmählich und zunächst auch nur den Experten. „Zwar ist dieser Verlauf in naturgeschichtlichen Zeiträumen betrachtet sehr schnell, doch mit Blick auf die menschliche Wahrnehmung, das kulturelle Gedächtnis und die massenmediale Aufmerksamkeitsspanne bedeuten Jahrhunderte fast schon eine Ewigkeit, zumal sich in diesen zwei Jahrhunderten sehr viele tiefgreifende Umwälzungen ereigneten“, so Ostheimer.

Andere sehen ein tiefer liegendes Phänomen, das zunehmend unseren Alltag bestimmt und in seiner Bedeutung weiter wachsen könnte: der Skandalismus. Thomas Strätling von der Gesellschaft für Kommunikationsforschung in Berlin erkennt hier „das Bedürfnis der Öffentlichkeit nach Orientierung in einer Alltagskultur, in der sinnstiftende Instanzen wie Kirchen, Familien, Parteien und Gewerkschaften an Einfluss verloren haben und im Prozess der Bildung von ethischen und moralischen Normen immer mehr zurücktreten“.

Nach kurzer Zeit zu gewohnten Verhaltensweisen zurückkehren

An die Stelle der „Sinninstanzen“ sind für Strätling die Medien getreten: „Sie entwickeln die Leitbilder, benennen die Beispiele, setzen die Maßstäbe.“ In der vehementen Auseinandersetzung mit scheinbaren und tatsächlichen Krisen würden im Skandalismus die gültigen Normen des Zusammenlebens überprüft.

Nutzen wir Menschen also die großen Krisen der Gesellschaft, um uns selbst zu vergewissern? Strätling meint, mit der Beruhigung des eigenen Gewissens durch kurzfristige Verhaltensänderungen, symbolischen Verzicht und dem Ruf nach halbherzigen politischen Reformen bewiesen die Verbraucherinnen und Verbraucher sich selbst gegenüber ihre eigene Handlungsfähigkeit: „Und kehren nach kurzer Zeit zu ihren gewohnten Verhaltensweisen zurück.“

Wer kümmert sich dann um die vermeintliche Krise? „Zur Überwindung einer Krise braucht es gesellschafts- und wirtschaftspolitische Zukunftsentwürfe ebenso dringend wie Impfstoffe oder Überbrückungsgelder“, ist Lisa Suckert überzeugt, die am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln zum Zusammenhang von Zukunftserwartungen und ökonomischen Krisen forscht.

Für Suckert sind der Zusammenbruch der Finanzmärkte, das Brexit-Votum oder die Coronapandemie auch deshalb Krisen, weil sie uns überrascht haben. „Die Realität weicht in Krisenzeiten vom erwarteten Verlauf ab“, spricht sie aus, was kaum jemand wundert.

Zukunftsentwürfe, die erwarten wir doch von der Politik, oder? In einer schwierigen Lage sei eine intensive öffentliche Debatte erforderlich, stellt Suckert fest: „Lösungsszenarien abwägen sowie Ziele und Mittel neu definieren.“ Ob ein unerwartetes Ereignis als einschneidender Wendepunkt oder bloß als unglücklicher Ausreißer gilt, werde auch in öffentlichen Deutungskämpfen entschieden.

Heftig wird darum gerungen, meint Suckert, ob es sich um eine „echte“ Krise handelt oder „alles halb so schlimm“ ist. Gelinge es, die Unbestimmtheit der Zukunft als Offenheit zu begreifen und eine Vorstellung von Zukunft zu etablieren, die weite Teile der Bevölkerung teilen, könne ein Klima des Aufschwungs entstehen. „Krisen gehen dann in eine Phase der Zuversicht über“, sagt die Expertin. Das ist der regierenden Politik beim Thema Afghanistan aber offenbar nicht gelungen. Alle stürzen sich mittlerweile auf SPD-Außenminister Heiko Maas, der öffentlich kaum noch die richtigen Worte findet, um sich zu verteidigen.

„Ob die Politik das Vertrauen in die Zukunft stärken kann, entscheidet auch die rhetorische Überzeugungskraft“, meint Lisa Suckert vom Max-Planck-Institut. So konnte zum Beispiel das Versprechen „whatever it takes“ des Europäischen Zentralbankchefs Mario Draghi in der Eurokrise 2012 die Lage auf den Finanzmärkten stabilisieren und den Euro vorerst retten.

Gesellschaft resilienter machen für künftige Herausforderungen

Gibt es andere Wege, die Krisen dieser Welt zu entschärfen? „Es geht letztendlich um die Frage, wie wir als Gesellschaft resilienter werden, um uns für künftige große Herausforderungen wie den Klimawandel oder die Digitalisierung zu rüsten“, bietet Sascha Hermann, Geschäftsführer des VDI Technologiezentrums, eine Option an: Resilienz. Wir kennen den Begriff aus der Psychologie. Es ist die Fähigkeit, sich nach schlechten Zeiten schnell zu erholen.

Das Technologiezentrum unterstützt die Bundesregierung dabei, ein besseres Verständnis von zunehmend komplexer werdenden Krisen zu erlangen. In Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft sind ganzheitliche Konzepte für Resilienz gefragt, in denen Robustheit, Flexibilität und Nachhaltigkeit miteinander verbunden sind. „Das betrifft beispielsweise die klimaresiliente Gestaltung von Städten oder den Bereich der zivilen Sicherheit, etwa den Schutz kritischer Infrastrukturen vor extremen Wetterereignissen oder Hackerangriffen“, erklärt Hermann.

Aber hat die Expertise der Regierenden in den letzten Wochen geholfen, vor allem bei der verheerenden Flutkatastrophe nach den Starkregen? Sollten sich die Menschen vielleicht doch wieder mehr auf ihre eigene Initiative verlassen, auf ihre Innovationen, ihre „sozialen Innovationen“?

Dieser neue Begriff erlebte in den letzten Jahren Konjunktur. Auch am Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung in Erkner, wo Krisen und Resilienz zum Forschungsalltag gehören. „Innovation bezeichnet eben nicht das atemlose Entwickeln immer neuer Ideen, sondern die langfristige Etablierung neuartiger Denkweisen, Praktiken und Strukturen in teils langwierigen, nichtlinearen Prozessen“, erklärt uns dort der Soziologe Ralph Richter. Aber er betont, dass soziale Innovationen auch immer bedeuteten, dass etwas Gewohntes in Frage gestellt und abgelöst wird.

Soziale Innovationen wie Repaircafés oder Gemeinschaftsgärten

„Sie rufen daher zwangsläufig Widerstände hervor“, ist er sich sicher: „Schließlich ist offensichtlich, dass eine sozial-ökologische Transformation als Antwort auf die Klimakrise nicht allein durch technisch-ökonomische Innovationen erreicht werden kann, sondern dass es neuer sozialer Praktiken bedarf, geänderter Mobilitätsgewohnheiten etwa.“

Auch das Social Entrepreneurship, also das Lösen gesellschaftlicher Herausforderungen mit unternehmerischen Mitteln, hat Konjunktur. Hinter diesen Sozialunternehmen stehen Menschen, die ihre Kreativität, ihre Risikobereitschaft und ihren unternehmerischen Geist einsetzen, um innovative Ansätze zur Überwindung gesellschaftlicher Probleme zu entwickeln und zu verbreiten.

Laut einer Studie von KfW-Research  kamen allein zwischen 2012 und 2017 rund 108000 neue Sozialunternehmen hinzu. „Inzwischen sind das neun Prozent aller Jungunternehmen und drei Prozent bei Bestandsunternehmen“, sagt Markus Sauerhammer, Vorstand des Social Entrepreneurship Netzwerks Deutschland. „Eine dynamische Entwicklung“, betont er.

Beliebte Beispiele für soziale Innovationen sind Repaircafés, Gemeinschaftsgärten oder Sharing-Initiativen. Aber warum vermehren sie sich nicht wie Sand am Meer, wenn dreiviertel der Menschen in Deutschland laut dem Umfragedienst YouGov die Frage beschäftigt, wie es mit dem Klimawandel weitergeht?

Zukunftsmüdigkeit in vielen Gesellschaften spürbar

Ein Blick auf die so genannten Sinus-Milieus, ein Klassiker der sozialwissenschaftlichen Gesellschaftsanalyse, könnte das beantworten. Gerade mal sieben Prozent der Bevölkerung lassen sich dem „sozialökologischen“ Milieu zuordnen, das sich von sozialen Innovationen angesprochen fühlen dürfte. Diese Gruppe wird als engagiert gesellschaftskritisch angesehen, hat normative Vorstellungen vom „richtigen“ Leben und ein ausgeprägtes ökologisches und soziales Gewissen.

Hinzu kommt bestimmt eine „Zukunftsmüdigkeit“, von der Lisa Suckert vom Max-Planck-Institut sagt, dass sie derzeit in vielen Gesellschaften spürbar sei. Nach einem Krisenjahrzehnt, in dem sich die gesellschaftlichen Trennungslinien verstärkt haben, gelinge es den zersplitterten Gesellschaften schon in Normalzeiten immer weniger, eine positive Zukunft für die breite Bevölkerung zu zeichnen: „Die Zukunft scheint selbst in die Krise geraten zu sein“, stellt sie nüchtern fest.

Bleibt der Rückzug ins Private, was aber auch schief gehen kann. Die Psychologie kennt drei wichtige Abwehrformen, die auch in kollektiven Notlagen sowohl beim Einzelnen wie auch sozial zu beobachten sind: die Behauptung eigener Grandiosität, also ganz nach dem Motto: mich trifft es eh nicht, die Suche nach einem Retter, etwa dem Wissenschaftler meines Vertrauens, und die Suche nach Zugehörigkeit zum Beispiel zu Gleichdenkenden.

So lassen sich wohl die Verschwörungstheorien und so genannte Querdenker in der Pandemie erklären. „All diese narzisstischen Mechanismen gehen mit einer mangelnden Empathie den Anderen gegenüber einher, die sich im öffentlichen Raum etwa durch Entsolidarisierungen wie Hamsterkäufe zeigen“, erklärt Psychotherapeuth Ralph T. Vogel aus Ingolstadt.

Was bleibt als Fazit?

Es gibt viele Katastrophen in der Welt, Medien und Politik machen sie zur Krise. Das Schicksal der Menschen in Afghanistan und aktuell am Kabuler Airport ist ein gutes Beispiel. Wer da nicht mitmachen will, sollte sich von der Nachrichtenflut abwenden. Für viele Menschen ist es seit Corona aber eine Herausforderung, sich ohne Anregung von außen wie durch Sportverein, Kino, Kneipe, Theater oder Konzert zu beschäftigen.

Deshalb warnt die Deutsche Psychotherapeuten-Vereinigung: „Achten Sie darauf, sich maximal zweimal täglich mit Nachrichten zur Pandemie zu versorgen. Sie halten sonst Körper und Seele in einem permanenten Alarmzustand, vermutlich auch mit negativen Folgen für die Schlafqualität.“

Die Corona-Pandemie hat sich den Namen Krise auf jeden Fall verdient. Und sie hat es geschafft, dass jeder Zweite häufiger spazieren geht, wie eine Umfrage der AOK zeigt. Spitzenreiter ist Bremen, wo 52 Prozent der Einwohner häufiger zu Fuß unterwegs sind. Schlusslicht ist Sachsen-Anhalt mit einer Steigerung von 36 Prozent. Und vor allem jüngere Menschen sind zu Spaziergängern geworden: Mehr als jeder Zweite (53 Prozent) der 18- bis 29-Jährigen ist häufiger zu Fuß unterwegs als vor der Pandemie.

Foto: Markus Winkler auf Pixabay

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