Wissenschaft erklärt im Interview mit Alois Knoll, Professor für Robotik, Künstliche Intelligenz und Echtzeitsysteme an der Technischen Universität München (TUM). Im Interview erläutert er, was getan werden muss, um beim Thema digitale Mobilität zukunftsfähig zu bleiben.
Im Forschungsprojekt Providentia hat Ihr Team einen Abschnitt der A9 bei München mit Radarsystemen und Kameras ausgestattet, im aktuellen Nachfolgeprojekt Providentia++ eine vielbefahrene Kreuzung im Ortsgebiet Garching-Hochbrück. Inwiefern trägt das zum Verkehr von Morgen bei?
Die Sensoren, die auf Schilderbrücken und Masten in etwa zehn Metern Höhe angebracht sind, liefern von dort oben einen sehr guten Überblick über das aktuelle Geschehen auf der Straße. Dabei erfassen sie die genauen Positions- und Geschwindigkeitsdaten jedes Verkehrsteilnehmers. Eine Künstliche Intelligenz klassifiziert die Objekte und stellt dann anhand dieser Daten einen digitalen Zwilling her, also ein virtuelles Abbild des realen Verkehrsgeschehens.
Kommt es zu einem sicherheitskritischen Vorfall wie etwa einem plötzlichen Unfall oder Stau, kann diese Information in Echtzeit an jedes vernetzte Fahrzeug übermittelt werden. So können gefährliche Situationen im Voraus erkannt und Fahrzeuge rechtzeitig gewarnt werden. Auch der Verkehrsfluss kann verbessert werden, indem die Technologie beispielsweise die optimale Spur für ein besseres Vorankommen empfiehlt. Deswegen auch der Name: Providentia ist die römische Göttin der Vorsehung. Zum anderen steht der Name für Proaktive Videobasierte Nutzung von Telekommunikationstechnologien in innovativen Autoverkehr-Szenarien.
Das klingt tatsächlich nach einem großen Mehrwert, eigentlich auch für Fahrerinnen und Fahrer nicht autonomer Fahrzeuge.
Das stimmt, zum Beispiel, wenn man die Informationen des digitalen Zwillings so leitet, dass diese direkt per 5G-Netz im Smartphone ankommen – und das hat ja heute fast jeder an seiner Windschutzscheibe hängen. Möglich wäre auch, dass man die Infos in das Navigationssystem der Fahrzeuge einspeist und dieses dann akustische und virtuelle Warnsignale abgibt. Im Falle eines voll autonom fahrenden Fahrzeugs der Stufe fünf wäre es zudem möglich, dass die Technik direkt eingreift, indem das Fahrzeug in einer kritischen Situation automatisch abbremst oder ausweicht.
Was aber passiert, wenn ein Fehler auftritt und das System plötzlich aussetzt?
Hier muss zwischen Ausfall der Fremdsteuerung und böswilliger Fehlsteuerung unterschieden werden. Ersteres kann und muss jedes autonom fahrende Fahrzeug tolerieren, das heißt, es muss in jedem Fall eine Eigenintelligenz besitzen, sodass es gefahrlos bremsen oder zum Stehen kommen kann. Bei einem böswilligen Eingriff von außen durch Hacker oder ähnliches sollte das Fahrzeug in der Lage sein, zu überprüfen, ob die Informationen, die es erhält, tatsächlich zum Verkehrsgeschehen passen. Durch die hochsichere Verschlüsselung der Daten und die Sicherung der Systemzugangspunkte sollte ein Eingriff von außen aber gar nicht erst möglich sein.
Was sagen Sie Menschen, die Angst vor Überwachung durch digitale Mobilität haben? Die Daten der auf der Straße fahrenden Autos werden schließlich aufgezeichnet und verarbeitet.
Unsere Forschung folgt zu jeder Zeit der Datenschutz-Grundverordnung, sensible Daten wie Kennzeichen der Autos werden nicht aufgezeichnet. Auch Gesichter von Fahrzeug-Insassen sind auf unseren Aufnahmen nie zu erkennen, obwohl theoretisch die Möglichkeit dazu besteht. Ich möchte betonen: Die Vorteile, die wir durch Providentia bereitstellen können, überwiegen die unwahrscheinlichen Risiken eines Daten-Missbrauchs. In Deutschland kommen jährlich tausende Menschen bei Verkehrsunfällen um oder verletzten sich schwer. Diese Zahlen könnten wir senken! Ich bin überzeugt: Die Straße der Zukunft muss digital sein. Damit erreichen wir mehr Sicherheit, mehr Transparenz sowie mehr Optimierung und Komfort.
Wie könnte der Weg hin zu einer digitalen Straße und digitale Mobilität aussehen?
Zunächst hat die TUM in Ottobrunn seit kurzem ein Testfeld, auf dem wir weitere Erfahrungen zur direkten Kopplung von Infrastruktur mit Fahrzeugen sammeln können. Es ist allerdings notwendig, dass wir baldmöglichst hinaus auf die Straße kommen. Nur so lernen wir, wie man zu-verlässige Systeme unter realen Bedingungen und mit realen Passagieren betreiben kann. Mein Vorschlag wäre die Einrichtung eines autonomen Shuttles zwischen Garching-Forschungszentrum und Garching-Hochbrück.
Ich denke an einen Shuttle, der nicht nur mit 20 km/h dahin kriecht, sondern ganz normal im Verkehr mitfließt. Ich finde, man muss auch mal was wagen, wenn die Forschung überhaupt einen Sinn haben soll. Um das zu erreichen ist eine adäquate Unterstützung der Infrastruktur durch Sicherheitssysteme wie Providentia++ sinnvoll. Letztlich wollen wir ja so viele Lebensbereiche wie möglich automatisieren, allen voran den öffentlichen Nahverkehr. Das wird nur mit einer leistungsstarken, digitalen Infrastruktur wie sie Providentia++ im kleinsten Maßstab geschaffen hat, möglich sein.
Welchen Wunsch haben Sie beim Thema digitale Mobilität an die Politik?
Man sollte viel stärker in den Bereich digitale Mobilität investieren und diese Vision Schritt für Schritt umsetzen. In München, der Stauhauptstadt Deutschlands, sehe ich einfach zu wenig Fortschritt. Wir haben ein Nahverkehrssystem, das an die Grenzen seiner Kapazität stößt, unzuverlässig und nicht gerade up-to-date ist. Wenn München die Technologiehauptstadt Europas sein soll, dann sollte es auch möglich sein, ein vernünftiges, IT-basiertes und intelligent gesteuertes Nahverkehrssystem aus unterschiedlichsten Vehikel-Typen einzurichten, das mit dem Individualverkehr über ein „City-Brain“ verknüpft ist und dafür sorgt, dass bei Minimierung von Energieverbrauch und Emissionen ein Maximum an Komfort erzielt wird und dabei obendrein verspricht, dass ein Passagier garantiert nicht schneller von A nach B kommen kann, als von diesem System vorgeschlagen und angeboten.
Wie sehen die nächsten Schritte aus?
Wir sind mit unserer Technologie so weit, dass wir daraus ein in der Praxis einsetzbares System entwickeln können. Das müsste dann natürlich die Industrie aufgreifen, die TUM selbst ist ja kein Hersteller verkehrstechnischer Infrastruktur. Dann bräuchte man staatliche Programme, um zumindest an neuralgischen Punkten größere Sensor-Installationen vorzunehmen. In München wäre etwa der mittlere Ring vorstellbar. Hier kommt es während der Rush Hour täglich zu immensen und nervenaufreibenden Staus. Providentia könnte den Verkehrsfluss optimieren, weil es unter anderem die Wellenbewegungen berechnen kann.
Um das umzusetzen, müssten aber die Städte beziehungsweise der Staat gezielt ihre Nachfragemacht einsetzen, um einen Strukturwandel einzuleiten, so wie es vor langer Zeit mit dem Straßen-, Eisenbahn- und Autobahnbau, und der „autogerechten Stadt“ auch geschah. Jetzt haben wir mit der Informationstechnik riesige Möglichkeiten, die Städte wieder menschengerecht zu machen und dabei ganz neue Industrien zu schaffen. Sie sehen, wir haben noch viel vor. Aber wir müssen es auch machen.
Quelle: Technische Universität München
Foto: Sebastian Kissel/ TUM